Diagnose und Therapie der chronischen Urtikaria

3. Diagnose der Urtikaria

Die Diagnostik beginnt mit einer ausführlichen Anamnese, die jedoch zielweisend auf zentrale Informationen fokussiert sein sollte. Erfragt werden sollten die folgenden Punkte: Dauer der Symptome, Verlauf, Rezidivhäufigkeit, bisherige Therapie, Leidensdruck, Begleitsymptome und -erkrankungen sowie potenzielle Triggerfaktoren (Infekte, Medikamenteneinnahme). Im Anschluss sollten eine körperliche Untersuchung sowie eine laborchemische Abklärung erfolgen, um andere systemische Erkrankungen auszuschließen. Eine gute Differenzialdiagnose ist auch deshalb wichtig, weil die empfohlene Standardtherapie der Urtikaria mit H1-Antihistaminika bei anderen Erkrankungen, die ebenfalls Symptome wie Quaddeln oder Angioödeme zeigen können, häufig wirkungslos ist. Zur sicheren Diagnosestellung sollte daher eine Orientierung an dem Diagnose-Algorithmus erfolgen, der auf der 6. Konsensuskonferenz überarbeitet wurde (Abbildung 2).

Treten neben Quaddeln auch Fieber, Unwohlsein, Knochen- oder Gelenkschmerzen auf, sollte an autoinflammatorische Erkrankungen gedacht werden, die nicht durch die Wirkung von Histamin und anderen Mastzellmediatoren entstehen, sondern Interleukin-1-vermittelt sind. Weiterhin gehört die Bestimmung von Entzündungswerten wie der Blutsenkungsgeschwindigkeit (BSG) und des C-reaktiven Proteins (CRP) zu den Routineverfahren und hilft bei der Differenzialdiagnostik. Treten Angioödeme ohne Quaddeln auf, könnten Bradykinin-vermittelte Erkrankungen wie das hereditäre Angioödem, ein ACE-Hemmer-induziertes Angioödem oder ein erworbener C1-Inhibitormangel die Ursache sein [Maurer et al. 2013]. Durch eine gezielte Anamnese, das Absetzen verdächtiger Medikamente und die genannten einfachen Blutuntersuchungen können diese Erkrankungen ausgeschlossen werden.

Abbildung 2: Aktualisierter differenzialdiagnostischer Algorithmus der internationalen Leitlinie; modifiziert nach [Zuberbier et al. 2018, EAACI/GA2LEN/EDF/WAO 2020].

Neben der richtigen Diagnose und der zeitnahen Therapieeinleitung ist es wichtig, dass der Hausarzt die Patienten differenziert, die aufgrund unklarer Diagnose oder eines schweren, langwierigen oder therapieresistenten (Urtikariakontrolltest ergibt Werte unter 12) Verlaufs zu einem Dermatologen oder in ein spezialisiertes Zentrum überwiesen werden sollten. Eine Überweisung zum Facharzt ist darüber hinaus sinnvoll, wenn Angioödeme trotz Absetzen von ACE-Hemmern weiter auftreten sowie mehrere, verschiedene Triggerfaktoren vorhanden sind. Eine weitere wichtige Rolle spielt das Patientengespräch, da viele Patienten häufig mehr als eine einfache Diagnose erwarten. Der behandelnde Arzt sollte sich deshalb Zeit für eine ausführliche Aufklärung nehmen und Patienten in Therapieentscheidungen miteinbeziehen.

3.1 Diagnose der verschiedenen Urtikariaformen

Anhand ihres Verlaufs unterteilt man die Urtikaria in eine akute und eine chronische Form. Die akute Form wird häufig durch Infekte, Nahrungsmittel oder Medikamente ausgelöst, tritt aber oftmals auch ohne erkennbare Ursache auf und bildet sich vollständig zurück [Mathelier-Fusade 2006]. Eine weiterführende Diagnostik ist in diesem Fall nur bei Verdacht auf ein allergisches Geschehen sinnvoll, damit eine zukünftige Allergenexposition vermieden werden kann.

Bei der chronischen Urtikaria lassen sich zwei Subtypen unterscheiden: die chronische spontane Urtikaria, bei der Beschwerden spontan, d. h. ohne spezifische Auslöser hervorgerufen werden und die chronische induzierbare Urtikaria, bei der spezifische Auslöser relevant sind. Hier sind wiederum verschiedene Unterformen wie z. B. die Kälte- und Wärmeurtikaria, die cholinergische Urtikaria, die Kontakturtikaria oder die aquagene Urtikaria bekannt (Tabelle 2) [Zuberbier et al. 2018].

modifiziert nach [Zuberbier et al. 2018]
Subtypen der chronischen Urtikaria
Chronische spontane UrtikariaChronische induzierbare Urtikaria
Wiederkehrendes spontanes Auftreten von Quaddeln und/oder Angioödemen für einen Zeitraum von > 6 Wochen aufgrund bekannter oder unbekannter Ursachen (mögliche Ursachen: autoimmune Mechanismen, Medikamente,Nahrungsmittel, Infektionen)
  • Physikalische Urtikaria
    • Symptomatischer Dermographismus (Urticaria factitia oder dermographische Urtikaria)
    • Kälteurtikaria (Kältekontakturtikaria)
    • Druckurtikaria (verzögerte Druckurtikaria)
    • Lichturtikaria
    • Wärmeurtikaria (Hitzekontakturtikaria)
    • Vibrationsinduziertes Angioödem
  • Cholinergische Urtikaria
  • Kontakturtikaria
  • Aquagene Urtikaria

Liegt ein Verdacht auf eine chronische spontane Urtikaria vor, empfiehlt die internationale Urtikaria-Leitlinie ein zweistufiges Verfahren in Form von Basisdiagnostik und weiterführenden Untersuchungen (Tabelle 3) [Zuberbier et al. 2018]. Nach Ausschluss von entzündlichen Grunderkrankungen durch sorgfältige Anamnese und laborchemische Untersuchungen wie Differenzialblutbild, Bestimmung des C-reaktiven Proteins und/oder der Erythrozytensedimentationsrate (ESR) sollten mögliche symptomauslösende Medikamente (z. B. nicht-steroidale Entzündungshemmer) abgesetzt werden. Bestehen die Symptome trotz Ersttherapie langanhaltend oder schwerwiegend, sollten weitere diagnostische Maßnahmen z. B. zu chronischen Infekten sowie einer Autoreaktivität erwogen werden. In spezialisierten Praxen oder Zentren ist die Bestimmung von Immunglobulin (Ig)-E sowie IgG-Anti-Thyroperoxidase (TPO)-Antikörpern sowie weiteren Biomarkern angemessen. Weitere ergänzende Untersuchungen sollten auf Basis der Patientenhistorie durchgeführt werden [Zuberbier et al. 2018, EAACI/GA2LEN/EDF/WAO 2020].

Bei der chronischen induzierbaren Urtikaria ist der Nachweis des auslösenden Triggers sowie die Bestimmung der Reizschwelle von größtem Interesse. Bei allen Unterformen wird die Diagnose mittels Provokationstests bestätigt [Zuberbier et al. 2018]. Dabei sollten alle auf der Anamnese basierenden infrage kommenden Auslöser berücksichtigt und getestet werden, weil viele Patienten auf mehrere Trigger reagieren. Da symptomatische Therapien einen solchen Provokationstest beeinflussen können, sollten die Medikamente (falls der Zustand des Patienten dies zulässt) kurzzeitig für mindestens drei bis sieben Tage pausiert werden. Andernfalls ist das Testergebnis unter Vorbehalt zu betrachten [Magerl et al. 2016].

Während der Behandlung ist die regelmäßige Durchführung von Provokationstests ebenfalls sinnvoll, um das Therapieansprechen zu bewerten und ggf. Anpassung vornehmen zu können. Eine Refraktärphase der Haut kann nach einer Urtikaria-Reaktion nicht ausgeschlossen werden, daher sollte der erneute Test im zeitlichen Abstand und an anderer Stelle durchgeführt werden. Zur besseren Vergleichbarkeit wird empfohlen, den Test an bestimmten Hautbereichen, wie z. B. am volaren Unterarm bei der Kälte-/Wärmeurtikaria oder am Gesäß bei der Lichturtikaria durchzuführen. Es ist zu beachten, dass eine positive Reaktion bei der verzögerten Druckurtikaria erst einige Stunden später zu erkennen ist; bei den anderen Formen zeigt sich die Reaktion meist innerhalb weniger Minuten [Magerl et al. 2016].

modifiziert nach [Magerl et al. 2016, Zuberbier et al. 2018].
1 Zur Bestimmung der Schwellenwerte werden alle Tests mit unterschiedlichen Leveln des möglichen Auslösers durchgeführt.
2 Weitere Details zu den Provokationstests und zur Bestimmung der Schwellenwerte finden sich unter [Magerl et al. 2016].
UnterformRoutinediagnoseErweiterte Diagnose (wenn indiziert)
Urtikariaform Spontane Urtikaria Akute spontane Urtikaria Keine Keine (außer bei Verdacht auf Allergie)
Chronische spontane Urtikaria Differenzialblutbild und BSG oder CRP Untersuchung auf:
  1. Infektions­krankheiten
  2. Funktionelle Autoantikörper
  3. Schild­drüse­nhormone und Autoantikörper
  4. Allergien (Hauttest und/oder Allergen­vermeidungstests)
  5. Begleitende chronische induzierbare Urtikaria (siehe unten)
  6. Schwere systemische Erkrankungen
  7. Andere (z. B. Hautbiopsie einer Quaddel)
Induzierbare Urtikaria Kälteurtikaria Kälteprovokationstest mit Bestimmung des Schwellenwerts1; z. B. TempTest®, Eiswürfel, kaltes Wasser Differenzialblutbild und BSG oder CRP, Ausschluss anderer Erkrankungen, v. a. infektiöser Genese
Verzögerte Druckurtikaria Drucktest mit Bestimmung des Schwellenwerts1,2 Keine
Wärmeurtikaria Wärmeprovokations­test mit Bestimmung des Schwellenwerts1,2 Keine
Lichturtikaria UV und sichtbares Licht verschiedener Wellenlängen und Bestimmung des Schwellenwerts1,2 Ausschluss anderer lichtinduzierter Dermatosen
Symptomatischer Dermographismus / Urticaria factitia Bestimmung Dermographismus und Bestimmung des Schwellenwerts1,2; (Dermographometer, z. B. FricTest®) Differenzialblutbild und BSG oder CRP
Vibrations­induziertes Angioödem Vibrationstest, z. B. mit Vortex2 Keine
Aquagene Urtikaria Provokationstest2, nasse körperwarme Kompresse für 40 Minuten oder bis der Patient eine Reaktion berichtet Keine
Cholinergische Urtikaria Provokationstest mit Bestimmung des Schwellenwerts2, z. B. körperliche Anstrengung oder ein heißes Bad Keine
Kontakturtikaria Provokationstest mit Bestimmung des Schwellenwerts2, z. B. Prick-Test Keine

3.2 Erfassung von Krankheitsaktivität und Krankheitskontrolle und Beurteilung der Lebensqualität

Vor der Einleitung, aber auch während der Therapie ist die Bestimmung der Krankheitsaktivität, der Krankheitskontrolle sowie der Lebensqualität wichtig, um eine Einschätzung zum Krankheitsverlauf und dem Therapieerfolg zu erhalten. Nur so können Veränderungen erfasst werden und Therapieanpassungen erfolgen. Aufgrund der täglichen Schwankungen der Symptomintensität ist bei der Dokumentation eine gute und regelmäßige Mitarbeit des Patienten notwendig. Mittlerweile stehen verschiedene Scores zur Verfügung, mit deren Hilfe Krankheitsaktivität, die Krankheitskontrolle sowie der Einfluss auf die Lebensqualität erfasst werden können [Weller et al. 2017].

Zur Erfassung der Krankheitsaktivität empfehlen die aktuellen Leitlinien den Urtikaria-Aktivitätsscore (UAS) [Mathias et al. 2012, Mlynek et al. 2008] und den Angioödem-Aktivitätsscore (AAS) [Weller et al. 2013c]. Für die Erfassung der Lebensqualität stehen der Chronic Urticaria Quality of Life Questionnaire (CU-Q2oL) [Mlynek et al. 2009] und der Angioedema Quality of Life Questionnaire (AE-QoL) [Weller et al. 2012] zur Verfügung.

Seit 2014 ist der Urtikariakontrolltest (Urticaria Control Test, UCT; siehe Box 1) zur Erfassung der Krankheitskontrolle verfügbar. Dieser wird von den aktuellen Leitlinien bei allen Urtikariaformen empfohlen. Mit vier einfachen Fragen zur Krankheitsaktivität, Lebensqualität, Therapie und Krankheitskontrolle ermöglicht er eine schnelle und zuverlässige Einschätzung der Krankheitssituation in den letzten vier Wochen. Jede Frage wird dabei mit null bis vier Punkten bewertet und ein Cut-off-Wert hilft, Patienten mit schlecht kontrollierter Urtikaria von Patienten mit einer gut kontrollierten Erkrankung zu unterscheiden. Ab zwölf Punkten kann von einer guten Krankheitskontrolle ausgegangen werden, bei geringerer Punktzahl empfiehlt sich eine Therapieanpassung [Weller et al. 2014]. Eine Änderung von drei Punkten wird als klinisch relevant erachtet (MID, Minimal Important Difference) [Ohanyan et al. 2017].

1. Wie sehr haben Sie in den vergangenen 4 Wochen unter den körperlichen Beschwerden der Urtikaria (Juckreiz, Quaddelbildung und/oder Schwellungen) gelitten?
2. Wie sehr war Ihre Lebensqualität in den vergangenen 4 Wochen wegen der Urtikaria beeinträchtigt?
3. Wie oft hat die Therapie für Ihre Urtikaria in den vergangenen Wochen nicht ausgereicht, um die Urtikariabeschwerden zu kontrollieren?
4. Wie gut hatten Sie Ihre Urtikaria in den vergangenen 4 Wochen insgesamt unter Kontrolle?

Zur Erfassung der Krankheitskontrolle bei Angioödemen wurde kürzlich der Angioödemkontrolltest (Angioedema Control Test, AECT; siehe Box 2) entwickelt [Weller et al. 2019, Weller et al. 2020] und die Nutzung empfohlen [EAACI/GA2LEN/EDF/WAO 2020]. Mit vier Fragen und jeweils fünf Antwortmöglichkeiten werden die Häufigkeit von Angioödemen, die Beeinträchtigung der Lebensqualität, die Unvorhersehbarkeit des Auftretens sowie die Krankheitskontrolle durch die derzeitige Behandlung erfragt. Rückwirkend wird dabei ein Zeitraum von drei Monaten betrachtet. Bei Patienten mit weniger als zehn Punkten gilt die Erkrankung als schlecht kontrolliert. Dieser Cut-off-Wert soll den Arzt bei der Therapieentscheidung unterstützen und zeigt, ob die bisherige Therapiestrategie wirksam ist oder angepasst werden sollte.

1. Wie oft hatten Sie in den letzten 3 Monaten Angioödeme?
2. Wie sehr war Ihre Lebensqualität in den letzten 3 Monaten durch Angioödeme beeinträchtigt?
3. Wie sehr hat Sie die Unvorhersagbarkeit von Angioödemen in den letzten 3 Monaten belastet?
4. Wie gut waren Ihre Angioödeme in den letzten 3 Monaten durch Ihre Therapie unter Kontrolle?

Die beschriebenen Scores sind wertvolle Instrumente, die die ärztliche Therapieempfehlung unterstützen und mögliche Veränderungen schnell erkennbar machen. Weiterhin sind sie meist für Patient und Arzt leicht anzuwenden bzw. auszuwerten und können zeit- und ressourcensparend sein [Weller et al. 2017].

modifiziert nach [Weller et al. 2017]
cU: chronische Urtikaria, csU: chronische spontane Urtikaria, MID: Minimal Important Difference, UAS: Urtikaria-Aktivitätsscore, UCT: Urticaria Control Test
UCT UAS (UAS7)
AnwendungÜberprüfung der KrankheitskontrolleMessung der Krankheitsaktivität
IndikationcUcsUa mit Quaddeln
Anzahl der Fragen4 (einmalig)2 (täglich)
Beurteilungretrospektivprospektiv
Beurteilter Zeitraum4 Wochen1 Tag (empfohlen: UAS7 = UAS Summe über 7 Tage)
Range0–16UAS: 0–6
UAS7: 0–42
Minimal Important Difference (MID)3 Punkte
[Ohanyan et al. 2017]
UAS7: ca. 10 Punkte
[Mathias et al. 2012]
Hohes Level an Patientenmitarbeit gefragt+
Schnelle und einfache Auswertung++