Diagnose und Therapie der chronischen Urtikaria

2. Klinisches Bild und Pathogenese der Urtikaria

Das plötzliche Auftreten von Quaddeln, Angioödemen oder beiden Symptomen ist typisch für eine Urtikaria (Tabelle 1). Im Zuge einer Immunreaktion weiten sich die Blutgefäße der Haut und die Gefäße werden durchlässiger, sodass sich die Haut rötet und vermehrt Flüssigkeit ins Gewebe übertritt. Gleichzeitig werden sensorische Nervenenden in der Dermis stimuliert und führen zu Jucken [Radonjic-Hoesli et al. 2017]. Während die Schwellungen bei Quaddeln oberflächlich und flüchtig sind, zeigt sich die Schwellung bei Angioödemen in der tieferliegenden Dermis und Subkutis und bleibt bis zu 72 Stunden bestehen. Eine Beteiligung der Schleimhäute der oberen Schluckstraße kann stark beeinträchtigend und beängstigend sein [Zuberbier et al. 2018]. Etwa die Hälfte aller Patienten mit chronischer spontaner Urtikaria leiden an Angioödemen [Maurer et al. 2017b].

[Zuberbier et al. 2018]
QuaddelAngioödem
  • Oberflächliche Rötung und Schwellung der Haut unterschiedlicher Größe, meist von einem Reflexerythem umgeben
  • Jucken, selten auch Brennen oder Schmerzen
  • Flüchtigkeit, Erscheinungsbild der Haut normalisiert sich innerhalb von 30 Minuten bis 24 Stunden
  • Plötzliche, ausgeprägte Schwellung der tieferen Dermis und Subkutis, meist hautfarben
  • Manchmal Schmerzen, oft kein Jucken
  • Gelegentlich Beteiligung der Schleimhäute
  • Rückbildung dauert mit bis zu 72 Stunden deutlich länger als bei Quaddeln

Die Entstehung der Urtikaria ist sehr komplex, die Grundlage ist das sogenannte zelluläre pathogenetische Konzept. Die Symptome der Urtikaria werden durch Histamin, Zytokine und Chemokine verursacht, welche von degranulierten Hautmastzellen freigesetzt werden. Die Aktivierung der Mastzellen erfolgt dabei durch das Zusammenwirken von zwei verschiedenen Typen von Signalen: Mastzelldegranulatoren und Mastzellmodulatoren. Mastzelldegranulatoren führen direkt zur Degranulation der Mastzellen, während Mastzellmodulatoren die Bereitschaft von Mastzellen verändern, auf Mastzelldegranulatoren anzusprechen [Maurer et al. 2018]. Zwei unterschiedliche Klassen von Autoantikörpern lösen die Degranulation von Hautmastzellen bei der chronischen spontanen Urtikaria aus: Bei der Typ-I-Autoimmunität (Autoallergie) binden IgE-Autoantikörper gegen körpereigene Antigene (Autoallergene) an den Mastzellen und führen, wenn sie Autoallergene binden, zur Aktivierung und Degranulation von Mastzellen (Abbildung 1). Bei der Typ-IIb-Autoimmunität führt die Bindung von Autoantikörpern der Klassen IgG und IgM gegen körpereigenes IgE [Grattan et al. 1991] oder den hoch affinen IgE-Rezeptor [Zampeli et al. 2020] zur Degranulation der Mastzellen. Vermutlich ist eine Typ-I-Autoimmunität auch die Ursache für die chronische induzierbare Urtikaria, bei der dann Wärme, Kälte oder Druck etc. zu einer Bildung von Autoallergenen und so über die beschriebene Kaskade zur Mastzellaktivierung führen [Maurer et al. 2017c].

In der von Quaddeln betroffenen Haut ist zusätzlich zu einer Hochregulierung endothelialer Adhäsionsmoleküle, Neuropeptiden und Wachstumsfaktoren auch ein entzündlich perivaskuläres Infiltrat aus Lymphozyten, Eosinophilen, Basophilen und/oder Neutrophilen zu beobachten [Kaplan et al. 2017, Maurer et al. 2018]. Auch von einer Erhöhung der Mastzell-Zahl wurde berichtet [Haas et al. 2001]. Ebenfalls wurde bei einigen Unterformen in nicht betroffenen Hautarealen eine Veränderung der Adhäsionsmoleküle [Zuberbier et al. 1997] und Zytokinexpression [Kay et al. 2014b] beschrieben. In der aktuellen Forschung wird auch die Interaktion und Kommunikation des Immunsystems mit dem Nervensystem untersucht. Hier konnte gezeigt werden, dass das Zusammenspiel der neuro-immun-kutanen Mediatoren durch erhöhte Stresslevel aus dem Gleichgewicht gebracht wird und so eine Verschlimmerung der Urtikaria triggern kann [Konstantinou et al. 2020]. Zudem wird durch die erhöhte Zirkulation von Histamin und anderen Mastzellmediatoren bei chronischer Urtikaria eine systemische Wirkung mit Einfluss auf Atemwege, Herz-Kreislauf-, Magen-Darm-, Zentralnerven- und Muskel-Skelett-System vermutet [Kocatürk et al. 2019]. So scheint die Pathogenese der Urtikaria sehr komplex und von diversen Faktoren beeinflusst [Greaves 1995, Hermes et al. 1999, Kaplan 2002].

Abbildung 1: Mechanismen der Mastzell-Aktivierung bei chronischer spontaner Urtikaria