COVID-19-IMPFUNG BEI PATIENT*INNEN
MIT MULTIPLER SKLEROSE UNTER
MONOKLONALER ANTIKÖRPERTHERAPIE
5 MONOKLONALE ANTIKÖRPER UND COVID-19-IMPFUNGEN
Die Grundimmunisierung und Auffrischimpfungen gegen SARS-CoV-2 werden für Menschen mit MS dringend empfohlen. Die bislang verfügbaren Daten sprechen dafür, dass das Risiko einer Infektion und eine damit einhergehende mögliche Verschlechterung des Gesundheitszustands bei weitem schwerer wiegt als das Risiko einer Impfung mit den bisher in der EU zugelassenen Impfstoffen und den bekannten Nebenwirkungen. Eine Sorge von MS-Patient*innen betrifft das potenzielle Schubrisiko nach einer Impfung. Dieses wird bei den mRNA- und Vektor-Impfstoffen als gering eingeschätzt, während das Schubrisiko unter den zugelassenen Protein- und Ganzvirusimpfstoffen noch nicht eingeschätzt werden kann. Stehen verschiedene Impfstoffe am Impftermin zur Verfügung, wird von der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) die Verwendung von mRNA-basierten Impfstoffen bei allen MS-Erkrankten favorisiert [DMSG 2022].
Vor Beginn einer MS-Therapie sollten immer der Impfstatus kontrolliert und ggf. fehlende Impfungen nachgeholt werden. Zeitlich sollten die Impfungen ca. zwei bis vier Wochen vor Beginn einer langfristigen Immuntherapie abgeschlossen sein, wenn die MS-Therapie entsprechend verschiebbar ist. Bei bereits bestehender Immuntherapie kann es unter Umständen aufgrund einer eingeschränkten Immunkompetenz der behandelten Menschen mit MS zu einem reduzierten Impfansprechen kommen [DMSG 2022]. Im Folgenden wird ein kurzer Überblick über die Therapien mit monoklonalen Antikörpern im Zusammenhang mit der COVID-19-Impfung gegeben.
5.1 ALEMTUZUMAB
Bei Alemtuzumab handelt es sich um einen humanisierten monoklonalen Antikörper gegen das Oberflächenmolekül CD52. Die Bindung von Alemtuzumab an CD52 auf der Oberfläche von Leukozyten führt zur Depletion dieser Zellen durch Antikörper-abhängige, zellvermittelte Zytotoxizität, Komplement-abhängige Zytotoxizität sowie die Induktion von Apoptose [Freedman et al. 2013]. Da die Expression von CD52 auf T- und B-Lymphozyten stärker ist als auf Zellen des angeborenen Immunsystems, werden in erster Linie die Lymphozyten depletiert. Anschließend kommt es zu einer sequenziellen Repopulation der Lymphozyten (Immunrekonstitution), wobei es zu einer Zunahme von Zellen mit regulatorischen Phänotypen kommt, während der Anteil pro-inflammatorischer T-Zellen verringert ist [Ruck et al. 2016, Ruck et al. 2022, Zhang et al. 2013]. Insbesondere in den ersten Wochen unmittelbar nach der Behandlung ist das allgemeine Infektionsrisiko erhöht, im weiteren Verlauf kommt es jedoch zu einer Wiederherstellung der Immunkompetenz. Bisherige Erfahrungen von COVID-19-Verläufen unter Alemtuzumab-Behandlung weisen auf einen überwiegend milden Krankheitsverlauf hin [Iovino et al. 2021] und verschiedene Studien zeigen, dass mit Alemtuzumab behandelte Patient*innen trotz der relativ langen T- und B-Zell-Suppression eine effektive humorale wie auch zelluläre Immunantwort auf COVID-19-Impfstoffe entwickeln [Achiron et al. 2021, Achiron et al. 2023, Bock et al. 2022]. Zwei Meta-Analysen berichten ebenfalls, dass die humorale Immunantwort auf eine COVID-19-Imfpung von Menschen mit MS unter Alemtuzumab-Therapie gut ausfällt und dass die Serokonversionsrate mit der von unbehandelten MS-Patient*innen vergleichbar ist [Gombolay et al. 2022, Wu et al. 2022]. Unter Umständen ist die Immunantwort jedoch abhängig von der Zeit seit der letzten Alemtuzumab-Dosierung und ein längeres Intervall seit der letzten Dosierung könnte eine bessere Immunantwort fördern [Achiron et al. 2021, Achiron et al. 2023]. Die DMSG empfiehlt, dass der Abstand zu Impfungen mindestens sechs Monate betragen sollte [DMSG 2022].
5.2 NATALIZUMAB
Natalizumab ist ein humanisierter monoklonaler Antikörper, der spezifisch an die α4-Unterheinheit des α4β1-Integrins bindet. Durch die Bindung an das Integrin, welches auf allen Leukozyten mit Ausnahme der Neutrophilen exprimiert wird, blockiert Natalizumab die Adhäsion der Zellen am Endothel der Blut-Hirn-Schranke und hemmt so deren Transmission in das zentrale Nervensystem (ZNS) [Rudick und Panzara 2008]. Während das Eindringen autoreaktiver Lymphozyten in das ZNS verhindert wird, werden die Zellen nicht aus dem Kreislauf entfernt. Vielmehr kommt es im peripheren Blut zu einem Anstieg der zirkulierenden Lymphozyten [Putzki et al. 2010]. Im Gegensatz zu Alemtuzumab handelt es sich bei Natalizumab daher nicht um eine depletierende Immuntherapie, sodass das generelle Infektionsrisiko nicht erhöht zu sein scheint. Auch die Daten zu COVID-19 bei Patient*innen unter Natalizumab-Therapie zeigen derzeit kein Risiko für einen schweren Verlauf [Barzegar et al. 2022, Sormani et al. 2021, Simpson-Yap et al. 2022]. In verschiedenen Studien konnte zudem gezeigt werden, dass Menschen mit MS unter Natalizumab nach einer Impfung mit einem mRNA-Impfstoff sowohl eine humorale als auch zelluläre Immunantwort aufweisen [Bock et al. 2022, Capuano et al. 2021, Iannetta et al. 2021]. Entsprechend der bisherigen Daten ist eine Impfung unter laufender Natalizumab-Therapie daher möglich [DMSG 2022].
5.3 ANTI-CD20-ANTIKÖRPER
UNTERSCHIEDE ZWISCHEN DEN ANTIKÖRPERN
Die Depletion von B-Zellen ist ein wirksamer Therapieansatz bei der Behandlung der MS. Das Oberflächenmolekül CD20 wird auf Prä-B-Lymphozyten, reifen B-Lymphozyten und Gedächtnis-B-Zellen exprimiert und die Bindung von Anti-CD20-Antikörpern induziert die Depletion dieser B-Zellen. Es existieren verschieden zu verabreichende Anti-CD20-Antikörper. Während die erste Generation von Anti-CD20-Antikörpern intravenös (i.v.) in hoher Dosis und in langen Applikationsintervallen, bei Ocrelizumab z. B. alle sechs Monate in der Erhaltungsdosis von 600 mg, angewendet wird, erfolgt die seit 2021 zugelassene niedrig dosierte Anti-CD20-Antikörpertherapie mit 20 mg Ofatumumab nach erfolgter Initialdosierung einmal monatlich subkutan (s.c.). Im Vergleich zu i.v. verabreichten Anti-CD20-Antikörpern erkennt Ofatumumab eine andere Sequenz (Epitop) des CD20-Moleküls und bindet an diese mit einer hohen Affinität. Dies erlaubt eine niedrige Dosierung [Bar-Or et al. 2021]. Die subkutane Applikation führt dazu, dass das lymphatische System zielgerichtet adressiert werden kann. Da in der Hypodermis Lymphgefäße verlaufen, gelangen hochmolekulare Proteine wie Ofatumumab nahezu zu 100 % ins lymphatische System [Richter und Jacobsen 2014, Viola et al. 2018] und so können mit einer niedrigdosierten s.c. Applikation wesentlich höhere Wirkstoffkonzentrationen in den Lymphknoten erreicht werden als mit einer i.v. Hochdosistherapie [Torres et al. 2022]. Präklinische Daten zeigen, dass die Depletion der B-Zellen unter Ofatumumab dadurch schneller und selektiver erfolgt als unter Ocrelizumab. So bleiben Vorläuferzellen im Knochenmark und damit die Induzierbarkeit und Ausdifferenzierung von Plasmazellen, die für den Schutz vor einer erneuten Infektion mit einem Erreger wichtig sind, im Mausmodell unter humanäquivalenten Ofatumumab-Dosen erhalten, während die i.v. Gabe von Ocrelizumab diese reduziert [Bigaud et al. 2022]. Darüber hinaus kommt es nach Behandlungsende von Ofatumumab zu einer schnellen B-Zell-Repopulation [Cotchett et al. 2021].
Die subkutane Applikation und Flexibilität der Therapie durch den schnellen Wirkeintritt bei Therapiebeginn und die schnelle B-Zell-Repletion im Falle der Notwendigkeit eines Absetzens der Therapie sowie insbesondere der Erhalt der Plasmazell-Induktion und -Differenzierung spielen auch beim Immunansprechen auf eine COVID-19-Impfung eine Rolle.
IMPFANTWORT UNTER ANTI-CD20-THERAPIE
Studiendaten deuten darauf hin, dass zwischen den verschiedenen Anti-CD20-Antikörpern Unterschiede bezüglich der humoralen Immunantwort bestehen. So wiesen laut einer Meta-Analyse von Wu et al. Menschen mit MS unter Ofatumumab-Therapie höhere Serokonversionsraten nach einer COVID-19-Impfung auf als solche, die mit Ocrelizumab behandelt wurden (Abbildung 3) [Wu et al. 2022].
Die Hochdosis-Therapie mit Ocrelizumab geht mit einer verminderten humoralen Immunantwort einher, wobei sich dieser Effekt mit der Dauer seit der letzten Anti-CD20-Gabe und dem Ausmaß der B-Zell-Repopulation zu reduzieren scheint. Die zelluläre Immunantwort bleibt unter Ocrelizumab hingegen erhalten [Apostolidis et al. 2021, Bar-Or et al. 2020, Brill et al. 2021, Räuber et al. 2022].
Daten deuten darauf hin, dass das niedrig dosierte s.c. verabreichte Ofatumumab sich von den i.v. verabreichten Hochdosis-Anti-CD20-Antikörpern bezüglich der Immunantwort auf eine COVID-19-Impfung unterscheidet. So konnten in Analogie zu Wu et al. 2022 [Wu et al. 2022] auch in einer Registerstudie aus den USA unter Ofatumumab höhere Serokonversionsraten als unter i.v. verabreichten Antikörpern erzielt werden [Levit et al. 2022]. Eine erhöhte Immunantwort ist vermutlich auf die unterschiedlichen Depletionsmuster der Antikörper zurückzuführen. So kommt es unter Ofatumumab zu dem Erhalt von Plasmazellen und einer schnelleren B-Zell-Repopulation [Räuber et al. 2022]. Zudem ist die B-Zell-Zahl unter Ofatumumab-Behandlung im Median konstant > 0 und kann somit eine Immunantwort ermöglichen [Bar-Or et al. 2022]. Es muss jedoch angemerkt werden, dass es sich bei fast allen Studien zur COVID-19-Impfung bei MS-Patient*innen unter Anti-CD20-Therapie um retrospektive Datenerhebungen handelt. Aktuell läuft in Deutschland die multizentrische, prospektive, offene klinische Studie KYRIOS, die die Auswirkungen einer Ofatumumab-Behandlung auf die Induktion der zellulären und humoralen Immunantwort (Nachweis von neutralisierenden Antikörpern) nach SARS-CoV-2-mRNA-Impfung untersucht. Letzteres ist insbesondere wichtig, da in anderen Studien bei dem Nachweis von Antikörpern häufig nur die Quantität, nicht jedoch die Funktionalität gemessen wurde. Für die Bewertung der humoralen Immunantwort ist jedoch der Nachweis von neutralisierenden Antikörpern von größter Bedeutung. Es werden sowohl die Immunantworten von Patient*innen analysiert, die während einer laufenden Ofatumumab-Behandlung eine SARS-CoV-2-mRNA-Impfung erhielten, als auch von Patient*innen, die vor Beginn einer Ofatumumab-Behandlung geimpft wurden (Kontrollgruppe). Die bisherigen Daten zeigen, dass alle Patient*innen unter laufender Ofatumumab-Therapie (N = 5) eine Woche nach der Impfung eine zelluläre T-Zell-Immunantwort erzielten. Es wurde ebenfalls ein Anstieg an neutralisierenden Antikörpern nachgewiesen, dieser fiel jedoch geringer aus als in der Kontrollgruppe (40 bzw. 25 % in Woche 1 bzw. Monat 1 vs. jeweils 100 % in der Kontrollgruppe). Um eine optimale Reaktion auf die SARS-CoV-2-Impfung zu gewährleisten, sollte die Impfung, wenn möglich, vor dem Beginn einer Ofatumumab-Therapie erfolgen. Hier muss allerdings abgewogen werden, ob eine Verzögerung der MS-Therapie zu vertreten ist. Da auch unter laufender Ofatumumab-Therapie eine spezifische Immunantwort auf die Impfung erzielt werden kann, ist die Impfung auch unter Therapie möglich [Ziemssen et al. 2022b].
Die Grundimmunisierung sollte immer durch eine Booster-Dosis ergänzt werden, um höhere Antikörperspiegel zu erreichen. Auch in Abwesenheit von B-Zellen wird damit die T-Zell-Antwort gesteigert [Madelon et al. 2022]. In der Studie von König et al. konnte bei einem Viertel der Patient*innen, die anfangs keine ausreichenden neutralisierenden Antikörpertiter unter B-Zell-Depletion mit i.v. verabreichten Antikörpern zeigten, nach dem Boostern eine Serokonversion erzielt werden [König et al. 2022]. Und auch vorläufige Daten der KYRIOS-Studie zeigen, dass fünf von sechs Patient*innen, die den Booster während einer laufenden Behandlung mit Ofatumumab erhielten, einen Anstieg der neutralisierenden Antikörper in einem ähnlichen Umfang wie in der Kontrollgruppe aufweisen [Ziemssen et al. 2022a]. Diese Daten unterstreichen die hohe Relevanz der Booster-Impfung.
Aufgrund der eingeschränkten Impfantwort unter Anti-CD20-Therapien können je nach Einschätzung der behandelnden Ärzt*innen zusätzlich zu den bei Immungesunden empfohlenen drei Antigenkontakten zum Erreichen einer Basisimmunität weitere Impfstoffdosen in einem Mindestabstand von je vier Wochen notwendig sein; gegebenenfalls nach zusätzlicher Antikörperkontrolle. Um die erzielte Schutzwirkung aufrechtzuhalten, kann es erforderlich sein, den bei Immungesunden empfohlenen Mindestabstand von zwölf Monaten für weitere Auffrischimpfungen zu verkürzen [RKI 2023].
IMPFDURCHBRÜCHE
Das Hauptziel der COVID-19-Impfung ist nicht die Verhinderung von Infektionen, sondern die Verhinderung einer schweren Erkrankung. Dies könnte bei MS-Patient*innen unter i.v. verabreichter Hochdosis-Anti-CD20-Therapie von Relevanz sein, da diese im Vergleich zu MS-Patient*innen unter anderen krankheitsmodifizierenden Therapien vermutlich ein erhöhtes Risiko für einen schweren COVID-19-Verlauf aufweisen [Simpson-Yap et al. 2022]. In einer Auswertung von Firmen-Studien konnte für Ocrelizumab hingegen kein erhöhtes Risiko für schwere Verläufe im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung gefunden werden [Hughes et al. 2021]. Risikofaktoren, von denen bekannt ist, dass sie in der Allgemeinbevölkerung mit schweren COVID-19-Verläufen verbunden sind, scheinen auch den Schweregrad von COVID-19 bei mit Ocrelizumab behandelten MS-Patient*innen zu beeinflussen [Hughes et al. 2021]. Bisher gibt es nur wenig Daten zu Impfdurchbrüchen, der Verlauf von COVID-19 ist bei diesen geimpften Patient*innen in den meisten Fällen jedoch mild [Januel et al. 2022]. In einer Auswertung italienischer Daten zeigte sich, dass das Risiko für Hospitalisierungen aufgrund von COVID-19 im Vergleich zu der Ära ohne Impfstoff reduziert ist [Sormani et al. 2022]. Eine andere Auswertung konnte dies für Ocrelizumab jedoch nicht zeigen [Schiavetti et al. 2022].
Beobachtungsdaten zu Ofatumumab deuten an, dass die meisten MS-Patient*innen unter dieser Therapie einen milden/moderaten COVID-19-Verlauf zeigen und verglichen mit der Gesamtbevölkerung kein erhöhtes Hospitalisierungs- und Mortalitätsrisiko haben [Cross et al. 2022]. Unter 476 geimpften Ofatumumab-Patient*innen der Phase-III-Extensionsstudie ALITHIOS gab es insgesamt sieben Impfdurchbrüche (1,5 % aller vollständig geimpften Patient*innen) mit mehrheitlich mild-moderatem Erkrankungsverlauf. Alle Patient*innen hatten sich nach normaler Krankheitsdauer von der Infektion erholt [Cross et al. 2022]. Es muss jedoch beachtet werden, dass diese Daten vor der Zirkulation der Omikron-Variante erhoben wurden. Weitere Daten sind daher notwendig, um ein besseres Verständnis von Impfdurchbrüchen unter Anti-CD20-Therapie zu erlangen.